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Die Mitte und die raue See

aus gfk (Gesellschaft für Kulturpolitik) 01/2016
„Mitte. Eine Frage der Kultur“
www.gfk-ooe.at

Als sich im Revolutionsjahr 1789 die Abgeordneten zur ersten ständeübergreifenden französischen Nationalversammlung einfanden, ahnten sie wohl nicht dass ihre Platzwahl noch über 200 Jahre später als Schema für politische Kategorisierungen dient. Links die Progressiven, rechts die Konservativen, so sollte es bleiben, für alle Zeiten. Doch bald wurde alles ein bisschen komplizierter: Liberalismus, Demokratie, Nationalismus, Marxismus, Anarchismus und fröhliche weitere –ismen fanden ihre AnhängerInnen, die sich alsbald darum (und jeweils untereinander) stritten, wer nun linker oder rechter, gemäßigter oder radikaler sein wollte und wirkte. Gegen das Gezeter der Flügelkämpfer brachten sich nun Parteien der Mitte in Stellung. Und die Mitte sprach: Wir sind vernünftig. Die anderen stürzen uns mit ihrem Extremismus ins Verderben. Doch die ihr (von sich selbst) zugedachte Rolle der Unschuld vom Lande konnte die Mitte nur selten erfüllen.
Die politische Mitte der Zwischenkriegszeit war vor allem christlich geprägt. Die besitzenden Stände, Bürger und Bauern, dominierten die Parteien und schrieben deren Programme. Mit den sich im 19. Jahrhundert herausgebildeten christlichen Soziallehren konnte man aber auch zumindest das provinzielle Proletariat ansprechen. Über weite Strecken der 1920er regierten die Konservativen Deutschland und Österreich. Und regieren können Konservative ganz gut, so lange sich das Weltenschiff in halbwegs ruhigen Gewässern befindet. In stürmischen Zeiten jedoch weniger. Und der Sturm kam 1929 mit der Weltwirtschaftskrise. In Deutschland zerbröselte die Mehrheit der Mitte und der – sich inhaltlich den Konservativen aufopfernden – SozialdemokratInnen. Und weil man die Nazis zwar doof fand, sie aber wenigstens nicht an der angeblichen Rechtmäßigkeit des Besitzes der Besitzenden rüttelten, unterstützte man sie. So kam es, dass 1933 sämtliche Abgeordneten der konservativen Parteien – immerhin noch mehr als hundert – für Hitlers Ermächtigungsgesetz und damit für die NS-Diktatur stimmten.
In Österreich beschränkten sich die Konservativen nicht auf die Rolle der Steigbügelhalter des Faschismus. Nein, man wollte diesen hässlichen Gaul selber reiten. Wie in anderen Staaten Süd- und Osteuropas radikalisierten sich Christlich-Konservative zum Faschismus. Ein Phänomen, für das der US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset den Begriff „Extremismus der Mitte“ prägte. Sie besagt, dass in Krisenzeiten weite Teile der so genannten „Mitte“ ihre vermeintlich hehren Werte und Ideale über Bord zu werfen bereit sind.
Nach 1945 war die Mitte nicht mehr wiederzuerkennen. Man bekannte sich – teils aus ehrlicher Überzeugung, teils aus Opportunismus – glühend zu Demokratie und Menschenrechten. Deutschnationalismus und Antisemitismus waren verpönt. Ja, selbst die allein seelig machende Wirkung der kapitalistischen Produktionsweise durfte in den ersten Programmen der CDU und der ÖVP angezweifelt werden. Entsprechende Passagen über einen „christlichen Sozialismus“, etwa aus dem Ahlener Programm der deutschen ChristdemokratInnen, wurden allerdings mit Beginn des Kalten Krieges rasch entsorgt. Die Schrecken des „Dritten Reiches“ im Hinterkopf und die des „Realsozialismus“ vor Augen wähnte sich die Mitte spätestens ab Ende der 1940er wieder als der großen moralischen Sieger der Geschichte, oder zumindest als letzten Hort der Besonnenheit. Gesellschaftspolitisch lief man wenig begeistert, aber doch, den Geister der Zeit hinterher.
Mit der ideellen und quantitativen Erosion des Proletariats begann auch die Sozialdemokratie sich vermehrt um die Mitte zu bemühen. Gemeinsam standen schwarz und rot für soziale Marktwirtschaft, gemeinsam aber schließlich auch für den neoliberalen Umbau dieser.
Dadurch ist die See wieder rauer geworden. Wirtschaftskrise, die Folgen der Kriege rund um Europa, Sozialabbau, das Erstarken rechtsextremer Parteien… wie re(a)gieren die Parteien der Mitte? In höchstem Maße unterschiedlich. Die Deutschen werden von ihrer erfahrenen Kapitänin stabil auf Kurs gehalten, hier zählen auch noch Werthaltungen, und nicht nur materielle Werte. Wie lange Frau Merkel dem Wind von rechts stand hält weiß man jedoch nicht. Blickt man in den Osten unseres Kontinents muss man sich größere Sorgen machen. Vermeintlich Konservative bauen vielfach fleißig ab: demokratische Rechte, menschliche Werte, die europäische Integration. Sie packeln geschichtsvergessen und schamlos mit offenen Faschisten. Sie müssen Schiffbruch erleiden.

Thomas Rammerstorfer