Kategorie-Archiv: Allgemein

26. 1. 2017: Die extremistische Herausforderung (Linz)

Thomas Rammerstorfer gibt einen Überblick über die vielfältigen extremistischen Herausforderungen unserer Tage, speziell auch über deren Erscheinungsformen in Oberösterreich.

In vielen Teilen Europas sind nationalistische und religiöse ExtremistInnen auf dem Vormarsch. Autoritäre Politikmodelle setzen sich durch: Sie stellen die Demokratie und Menschenrechte in Frage. Neben „traditionellen“ Neonazis tauchen vermeintlich neue Gruppen wie die „Identitären“ auf. Extremismen finden wir aber auch in Gemeinschaften von MigrantInnen, etwa die „Grauen Wölfe“ oder SalafistInnen.

Donnerstag, 26. Januar 2017 um 18 Uhr
Verein Begegnung Arcobaleno
Friedhofstraße 6, 4020 Linz

facebook-Veranstaltung hier

„Es war ein Türke!“ Ein Lehrstück über Vorverurteilungen, aufgeführt in Wels

Am 17. Dezember 2016 veröffentlichte die Landespolizeidirektion Oberösterreich eine Presseaussendung bezüglich eines Vorfalles, der sich am 8. Dezember in Wels ereignet haben soll:

„Sexueller Übergriff durch einen Taxilenker. In den frühen Morgenstunden des 8. Dezember 2016 kam es in Wels zu einem sexuellen Übergriff auf eine Frau. Auf einem Parkplatz in der Nähe ihres Wohnhauses wurde der Taxilenker zudringlich. Die Frau wehrte sich und stieß den Mann von sich. Das Opfer, das laut eigenen Angaben alkoholisiert war, konnte sich jedoch nicht weiter zu Wehr setzen. Der Taxilenker nützte offensichtlich den Zustand der Frau sowie ihre Wehrlosigkeit aus. Es kam zu sexuellen Handlungen. (…) Aufgrund umfangreicher Erhebungen der Polizei Wels konnte der Beschuldigte ausgeforscht und festgenommen werden. Er wurde nach Anordnung der Staatsanwaltschaft Wels in die Justizanstalt Wels eingeliefert.“

Nationalität oder Migrationshintergrund des mutmaßlichen Täters wurden nicht erwähnt. Auch das Wort Vergewaltigung kam nicht vor. Beides brachte die Stadt Wels in einer Meldung, die Wort für Wort ident auch von der FPÖ Wels übernommen wurde, ins Spiel:

„Schockiert zeigt sich der Welser Sicherheitsreferent Vizebürgermeister Gerhard Kroiß über Medienberichte, denen zufolge sich ein Taxilenker am 8. Dezember in Wels an einer Kundin vergangen haben soll. Laut Polizei konnte der verdächtigte türkische Taxifahrer ausgeforscht und in Untersuchungshaft genommen werden. „Wenn die Vorwürfe des mutmaßlichen Opfers stimmen, und es tatsächlich zu einer Vergewaltigung im Taxi gekommen ist, muss das Gesetz mit voller Härte gegen den Beschuldigten angewandt werden. (…)“ Da es sich laut Medienberichten um einen türkischen Taxilenker handelt, wird von Vizebürgermeister Kroiß bei einer Verurteilung die sofortige Abschiebung des Täters gefordert.“

Erwähnenswert ist hier auch, dass die Politik gleich der Justiz zu diktieren versucht, wie sie sich in dem Fall zu verhalten hat. Von Gewaltentrennung hat Vizebürgermeister Kroiß (FPÖ) offenbar noch nichts gehört. Jedenfalls lief eine Lawine an Vorverurteilungen an.

„Taxilenker belästigte wehrlose Welserin sexuell. Ausgeforscht und festgenommen wurde ein Taxilenker, der am 8. Dezember eine junge Frau auf der Heimfahrt vergewaltigt hat.“ (OÖN, 17. 12. 2016) und „Der türkische Taxilenker soll den Zustand der Frau ausgenützt haben.“ (OÖN, 19. 12. 2016)
„Welser Taxi-Vergewaltigung: Es war ein Türke!“ schrieb der „Wochenblick“ am gleichen Tag und phantasierte: „Bereits am 8. Dezember kam es in Wels zu einer Vergewaltigung durch einen Taxifahrer. Langsam sickert durch, dass es sich beim mutmaßlichen Täter um einen Türken handeln soll. Manche Medien verschweigen aus Rücksicht auf die international angespannten Beziehungen mit der Türkei diese Information.“
„21-Jährige in Taxi vergewaltigt: Lenker in U-Haft (…) Sex-Attacke in Taxi: Im oberösterreichischen Wels ist es zu einem Übergriff auf eine 21-Jährige gekommen. Der Taxilenker türkischer Abstammung soll sich an der jungen Frau vergangen haben.“ (Krone, 17. 12. 2016)

Gemeinsam hatten fast alle Berichte:

1. Der Verdacht wurde als Tatsacheninformation behandelt
2. Die von der Polizei nicht näher definierten „sexuellen Handlungen“ wurden als „Vergewaltigung“ bezeichnet
3. Der mutmaßliche Täter wurde zum „Türken“ – obschon er die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt

In den „sozialen Medien“ sorgten diese Informationen für den leider zu erwartenden Aufruhr. Und da sprechen wir nicht nur vom blau-braunen Sumpfgebiet. Schauen wir mal zur ÖVP. Dort postete Vizebürgermeister Lehner: „Die Situation (…) hat mit der Vergewaltigung einen traurigen Höhepunkt erreicht.“ Der ehemalige Welser ÖVP-Fraktionsobmann Carl-Georg Holter kommentierte den Beitrag: „Und schon wieder ein Türke. Schickt alle heim, dann muss sich unser Aussenminister auch nicht von diesem Gesindel beschimpfen lassen!“. (Beiträge vom 17. 12. Sie sind bis heute, 22. 12. 2016, unverändert)
Am 21. 12. schließlich ein weiterer Artikel in den OÖN: „Nach Sex-Übergriff: Krisengipfel für Taxiunternehmer“ schlagzeilte man. Und dann wird es interessant. Denn gleich der nächste Satz widerspricht der „Sex-Übergriff“-Headline: „Weil kein Tatverdacht besteht, wurde verdächtiger Lenker aus Untersuchungshaft entlassen.“

Oha. Wie geht es weiter?
„Der mutmaßliche Täter wurde zu Wochenbeginn aus der U-Haft entlassen: „Es gibt keinen ausreichenden Tatverdacht für eine Vergewaltigung oder sonstige Straftaten. Auch ein sexueller Missbrauch liegt nach unseren Erkenntnissen nicht vor“, begründet Christian Hubmer von der Welser Staatsanwaltschaft. Details zu dem Vorfall wollte er nicht preisgeben.“

Jetzt muss ich mal einwerfen: Das heißt jetzt nicht, dass es zu keinen strafrechtlich relevanten Handlungen gekommen sei. Es kam ja in der Vergangenheit auch vor, dass sexuelle Übergriffe von Behörden verharmlost wurden. Dennoch müssen wir uns hier vorerst mal auf die Staatsanwaltschaft und die Polizei verlassen, laut denen es eben momentan keinen „ausreichenden Tatverdacht“ oder sonstige „Erkenntnisse“ gibt. Das ist schlicht und ergreifend der Stand der Ermittlungen.

Und jetzt raten Sie mal, wie viele der Schaumschläger aus Politik und Medien bis jetzt den Anstand hatten, ihre Behauptungen zurückzunehmen, vielleicht sogar mit einem Ausdruck des Bedauerns?

Kulturszene: Vermeidet politische Äußerungen nicht!

„Vermeiden sie politische Äußerungen?“ fragten die OÖN Marco Michael „Wanda“ Fitzthum, Frontmann der im deutschsprachigen Raum höchst erfolgreichen Rockband Wanda:

„Nein, alleine dass wir unseren Körper auf einer Bühne befreien und von anderen verlangen, dasselbe zu tun – das vermittelt Befreiungsgeist. Mir ist die politische Atmosphäre zu aufgeheizt, um meine Meinung auch noch zu sagen. Ich will mit dieser Spaltung nicht weitermachen. Am schlimmsten finde ich die Angst vor dem Fremden, die nicht auszutreiben ist. Aber ich kann nichts dagegen tun.“

Das selbstausgestellte Armutszeugnis bestätigte „Wanda“ schon 2 Tage im Voraus, da jubelte der „Wochenblick“, man habe den Unpolitischen „exklusiv getroffen“ (ob dies tatsächlich der Fall war darf bezweifelt werden). Besonders gefällt der rechtsextremen Schmuddelpostille das Weglassen „belehrender Ansagen“ bei Wanda, das sei eine „Unbeschwertheit, die ankommt“.

Gut. Unpolitisch zu sein ist ein Luxus, den man sich momentan noch leisten kann: Weil frühere Generationen sehr politisch waren. Weil Jim Morrison „Father, I want to kill you, Mother, I want to fuck you“ schrie, darf Fitzthum „Ich möchte gerne mit meiner Cousine schlafen“ trällern. Aber das ist schon wieder genug zu Wanda. Man muss die Band nicht bashen, dazu ist sie eigentlich zu uninteressant. Interessant ist der Zeitgeist, der da spukt. Das immer selbstbewusstere Auftreten auch noch der allerdümmsten Alltagsfaschisten, und das immer zögerlichere Auftreten der Menschen mit humanistischer Einstellung (und dazu würde wahrscheinlich sogar der Wanda-Typ zählen, wenn er eine Einstellung hätte).

Eine Kulturszene, die sich nicht für die Gesellschaft interessiert, darf sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft sich nicht für sie interessiert.

Anfang des Jahres leitartikelte Thomas Weber im Szenemagazin „the gap“ darüber, „wie die Kultur aus dem Bewusstsein gespült wurde“. Da heißt es:

„Niemand fragt danach, kaum jemandem scheint es überhaupt aufgefallen zu sein. Aber irgendwo auf dem Weg ist uns die Kultur abhanden gekommen.“

und

„Die Kultur ist ziemlich weltfremd geworden: Sie verliert an Öffentlichkeit und Relevanz, wird weder geteilt, noch geklickt und wird – zumindest als geförderter Kulturbetrieb – irgendwann in Erklärungsnot geraten.“

Da scheint er recht zu haben. Burgtheater, „Staatskünstler“ „freie Szene“, in den 1990ern noch Lieblingsfeind der FPÖ und sonstiger rechter Recken, tauchen in den einschlägigen Diskursen nicht mehr auf. Und wenn einen die FPÖ nicht hasst, dann macht man irgendwas gewaltig falsch. „Der Künstler hat dort „Au“ zu schreien, wo es den anderen weh tut“ hat Georg Danzer (den wir heute so dringend brauchen würden!) mal geschrieben. Tut er (oder sie) es nicht, wird er sich irgendwann mal wundern, was alles nicht mehr gehen wird.

Großveranstaltung der „Grauen Wölfe“ in Linz

Im Oktober wird es in Linz gleich zwei Großveranstaltungen der rechtsextremen Szene geben. Am 29. Oktober treffen sich die „Verteidiger Europas“, ein buntes Sammelsurium aus FPÖlern, Islam-Hassern und Verschwörungstheoretikern (siehe z. B. hier).

Schon drei Wochen vorher laden die türkischen „Grauen Wölfe“ in Gestalt ihres Linzer Ablegers „Avrasya“ zu einem „Grillfest“ bzw. „Herbstfest“ („Sonbahar Şenliği“). Geplant ist die Veranstaltung gleich dreitägig, von 7. bis 9. Oktober 2016. Als Ort wird auf den Plakaten nur die Adresse Franckstraße 6 – 8 angegeben. Dort residierte u. a. die EC Logistics Gmbh (ein ÖBB-Tochterunternehmen). Neben kulinarischen und sonstigen Genüssen der harmloseren Art wird natürlich die rechtsextreme Propaganda hier nicht zu kurz kommen, dafür sorgen die angekündigten Auftritte der holländischen Musiker Gökhan Tekin und Ali Karagöz sowie des Fahnenschwingers Can Türkoğlu – alles bekennende „Graue Wölfe“. Gäste haben sich mittlerweile aus ganz Österreich angekündigt.

„Avrasya“ stand dieses Jahr schon mehrmals in der Kritik. Im März hatte sich ein Vorstandsmitglied des Vereins beim rumalbern bzw. Zeigen des „Wolfsgrußes“ in der Gedenkstätte Mauthausen gezeigt (siehe hier). Im Juni wurde eine angemeldete kurdische Kundgebung am Hauptplatz angegriffen, eine junge Frau niedergeschlagen (siehe hier).

Oberösterreich muss sich wieder mal fragen, warum die rechtsextremen Szenen gerade hier so aktiv sind – und was man dagegen tun könnte. Die „Kopf-in-den-Sand“-Taktik der Landespolitik hat bis dato jedenfalls nur den Faschisten genutzt.

Veranstaltungsankündigungen auf Facebook:

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Die Saadet Partisi in Österreich

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Seit 2012 ist es im Ausland lebenden türkischen StaatsbürgerInnen möglich an bundesweiten Wahlen in ihrem Heimatland teilzunehmen. Die Stimmen können in der Botschaft in Wien oder in den Konsulaten in Salzburg und Bregenz abgegeben werden. Seither versuchen auch die türkischen Parteien Strukturen im Ausland aufzubauen (Vereine, die gewissen Parteien oder Ideologien nahe standen, gab es selbstverständlich schon vorher). Neben den vier im Parlament vertretenen – der rechtskonservativ/islamischen AKP, der kemalistischen CHP, der rechtsextremen MHP und der linken HDP – tut sich in Österreich besonders die „Glückseeligkeitspartei“, Saadet Partisi (SP) hervor. Ende Juni wird ihr Vorsitzender Österreich besuchen. Geplant ist zumindest ein Auftritt in Wels. Ein guter Grund, einen Blick auf diese umtriebige Gruppierung zu werfen.

Zentrale Bezugsgröße der SP ist Necmettin Erbakan, dem Begründer der Millî Görüş („Nationale Weltsicht“)-Bewegung. Aus dieser islamischen Basis-Bewegung entstanden ab den 1970er Jahren immer wieder politische Parteien, die aber regelmäßig verboten wurden. 1996 wähnte sich Erbakan schließlich als Ministerpräsident der Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) am Ziel, wurde aber bereits im Jahr darauf vom Militär zum Rücktritt gezwungen. Die Refah Partisi wurde verboten, ebenso ihre Nachfolgeorganisation, die Fazilet Partisi (Tugendpartei, 2001). Schließlich spaltete sich die Szene des politischen Islams in der Türkei in die AKP und die SP, eine Spaltung, die von den Auslandsorganisationen – wie den Millî Görüş-Gruppen – nicht mitgemacht wurde. So finden sich heute bei Millî Görüş in Westeuropa UnterstützerInnen beider Parteien, oder auch dritter, denn insbesondere unter den Jungen scheint sich ein pro-westlicher, demokratischer Flügel zu entwickeln.

Erbakan hingegen strebte einen Staat an, der nach islamischen und nationalistischen Prinzipien zu lenken und ordnen sei. Zweifellos wäre so ein Konstrukt nicht mit einer liberalen Demokratie zu vereinen. Erbakan war außerdem Antisemit und phantasierte unentwegt von einer „zionistischen Weltverschwörung“:

„Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol, eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier „offene“ und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein „Parlament der 300″ und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere, unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische Weltordnung.“ so Erbakan in der „Welt“

Der heutige Parteivorsitzende Mustafa Kamalak dürfte ähnliche, vor allem dezidiert anti-westliche Ansichten haben. Der deutsche Verfassungsschutz zitiert ihn hier: „Der Platz dieses erhabenen Volkes (der Türken, Anmerkung T. R.) ist weder die Europäische Union, noch die Union der Kreuzfahrer, noch der Christenclub, sondern die Islamische Union, die seine Brüder geschaffen haben bzw. schaffen werden.“

An der Urne im Heimatland ist die SP nur bescheiden erfolgreich. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 brachte man es im Listenverbund mit der faschistischen Büyük Birlik Partisi noch auf 2 %, bei den Neuwahlen im November kandidierte man alleine und kam gerade mal auf 0,7 % der Stimmen. Trotz der weitgehenden Bedeutungslosigkeit in der Türkei und der übermächtigen Konkurrenz durch die AKP ist es der Saadet Partisi ab 2013 gelungen, Strukturen in Europa aufzubauen. Die Funktionäre rekrutieren sich in Oberösterreich aus der Millî Görüş-AnhängerInnenschaft. Regelmäßig werden Saalveranstaltungen und Schulungen organisiert. Der Besuch des Parteivorsitzenden Kamalak in Wels ist ein vorläufiger Höhepunkt dieser Bemühungen.

Rechts macht Druck

Thomas Rammerstorfer verirrt sich (fast) im wachsenden blauen Blätterwald. Aus Versorgerin #110

Vielleicht hat man ihnen in den letzten Wochen eine Ausgabe vom Wochenblick in die Hand gedrückt oder in den Postkasten gelegt und sie durften sich über Schlagzeilen wie »Kriminalität explodiert«, »Steuergeld für radikale Islamprediger«, »Asyl-Vergewaltiger darf nicht abgeschoben werden« und vielen Bildern von Frauen in Dirndlkleidern oder auch gänzlich ohne Kleider wundern.

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Traut keinem!

aus: OÖ. Planet Nr. 91 – 1/2016
https://ooe.gruene.at/service/planet

Noch vor wenigen Jahren waren die Morgenzeitung und die Abendnachrichten häufig die einzigen Quellen, mit denen der Durchschnittsmensch sein Weltbild entwickelte. Im heutigen fortgeschrittenen Informationszeitalter ist das Schnee von gestern; nahezu jedes Wissen – und sehr viel Unwissen – steht uns in jeder Sekunde zur Verfügung. Das kann ganz schön verwirrend sein.

Der Homo Skeptikus des 3. Jahrtausends glaubt nicht was in der Zeitung steht oder was er in den TV-Nachrichten sieht. Er vermutet eine verschworene Partnerschaft zwischen Medien und Mächtigen, deren Ziel es ist, „das Volk“ in allen Belangen zu belügen, oder ihm zumindest relevante Teile der Wahrheit vorzuenthalten. Die selbsternannten HeldInnen der Meinungsfreiheit hingegen sind vor allem im Internet zu finden. Eine bizarre Welt aus hunderten Bloggern und Hobby-JournalistInnen widmet sich dem Kampf gegen die Verschwörung der sogenannten „Lügenpresse“. Sie reimen sich ihre eigene Realität zusammen: „Die Flüchtlingskrise? Eine Intrige der USA gegen Europa.“ „Ein Erbeben in der Südsee? Geheime Raketentests.“ „Abschaffung des 500-Euro-Scheines? Jetzt verschwindet alles Bargeld für immer.“ Und wenn man dann noch zumindest einmal im Monat den Zusammenbruch des Finanzwesens oder Ausbruch des Dritten Weltkrieges herbeischreibt, findet man sicher bald Gefolgschaft.

Recht so. JournalistIn darf jeder sein. Das ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Einen Blog oder facebook-Account kann man in wenigen Minuten einrichten und los geht es. Man behauptet heute dieses, morgen jenes und findet sicher auch für alles eine Quelle, muss ja nicht wissenschaftlich belegt sein. WissenschafterInnen sind doch auch nur Lakaien der Mächtigen! Erfolgreich ist man, wenn man sich im gängigen Vorurteils-Mainstream bewegt. Bei der Lektüre soll man schon ab und an „Ich habs ja gewusst, dass die so sind!“ oder „Ich hab denen schon immer alles zugetraut!“ ausrufen können. Die LeserInnenschaft soll sich in ihren Ängsten bestätigt fühlen, ihre eigenen Gedanken wiedererkennen. Damit kopieren viele mutmaßlich medienkritischen Blogger die Tricks des Boulevard-Journalismus.

In einer Demokratie gelten die Medien als „vierte Macht“. Sie decken Missstände auf, kontrollieren die Herrschenden, informieren die Öffentlichkeit, ermöglichen die Diskussion – im Idealfall. Freilich ist nicht alles eitel Wonne in der Welt der Medien, in Österreich schon gar nicht. Unternehmen, Parteien, Institutionen und Lobbys versuchen in ihrem Sinne Einfluss zu nehmen auf die Berichterstattung, nicht selten mit Erfolg. Diese Umstände können, ja müssen kritisiert werden. Das gesamte Publikationswesen aber als Teil einer Intrige finsterer Mächte zu betrachten und an seiner statt Angstparolen von Verschwörungs-Gurus für bare Münze zu nehmen ist gefährlicher Humbug. Man sollte den Laien-SchreiberInnen, deren monetären Interessen und politische Absichten auch oft genug die Objektivität eintrüben, mit mindestens der gleichen Skepsis begegnen wie den professionellen VertreterInnen der Zunft.

Thomas Rammerstorfer

Lügenpresse: Politisches Schlagwort, das vielfach von den Nationalsozialisten zur Denunziation ihnen kritisch gesonnener Medien benutzt wurde. In den letzten Jahren erlebte der Ausdruck durch die rechtsextreme „PEGIDA“-Bewegung und durch VerschwörungstheoretikerInnen eine Renaissance. 2014 wurde „Lügenpresse“ in Deutschland zum „Unwort des Jahres“.

Druck auf Medien: Laut „Reporter ohne Grenzen“ wurden 2015 weltweit 110 JournalistInnen getötet, mehr als 200 entführt oder inhaftiert.