Schlagwort-Archiv: ÖVP

Wer Oberösterreich regiert – und warum

Die schwarz-blaue Bundesregierung ist gut ein Jahr im Amt – welche Note geben Sie ihr für diese Zeit?

Greiner: Diese Regierung verdient vor allem im Vergleich mit der vorhergehenden ein »Sehr gut«.
(…)
Die schwarz-blaue Landesregierung in OÖ ist mittlerweile seit gut drei Jahren im Amt. Welche Note geben Sie dieser?

Greiner: Ebenfalls ein »Sehr gut« (…)

Selten hörte man Vertreter der Wirtschaft so hochzufrieden mit einer Regierung – bzw. mit derer zwei, in Land und Bund – wie hier den Präsidenten der oberösterreichischen Industriellenvereinigung (IV), Axel Greiner im Dezember 2018.[1] Freilich, die Herrlichkeit im Bund ist erstmal vorbei, doch in Oberösterreich läuft es für die IV weiterhin wie geschmiert. Die Zufriedenheit mit der Landesregierung ist aber auch ein gutes Stück Selbstzufriedenheit, man hat diese Regierung ja quasi gezeugt, geboren und schließlich nach den ein oder anderen Startschwierigkeiten zu 100% nach seinen Vorstellungen erzogen.

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4. Juni 2019: „Linke Politik unter rechtem Kurs: Das Beispiel Österreich“ in Leipzig

Conne Island, Koburger Str. 3, 04277 Leipzig
4. Juni 2019, Einlass ab 19 Uhr

Rechts-nationalistische Einstellungen haben in ganz Europa an Boden gewonnen. In Deutschland ist dieser Trend spätestens mit dem Einzug der AfD in den Bundestag sichtbar geworden. Speziell im Osten konnte die Partei viele Stimmen für sich verbuchen. Mit dem Vormarsch der Rechtspopulisten schlugen aber auch die anderen Parteien konservativere Töne an, sprachen von den Gefahren einer offenen Gesellschaft und vom links-grünem Mainstream, von Heimat, gesundem Patriotismus und den berechtigten Sorgen der Bürger, die Woche für Woche ihre menschenverachtenden Parolen in Dresden herausschrien.

Entsprechend nervös blickt man nun auf die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen: Wird sich der Rechtsschwenk fortsetzen? Vor allem linksalternative Vereine und Projekte, antifaschistische Initiativen und Kulturschaffende sorgen sich, dass die politische Agenda künftig noch stärker von reaktionären und anti-emanzipatorischen Forderungen dominiert werden könnte. Was das für sie bedeuten würde, zeichnet sich schon jetzt in Sachsen-Anhalt ab – wo eine Allianz aus AfD- und CDU-PolitikerInnen seit Monaten das Demokratie-Netzwerk Miteinander e.V. attackiert und eine Enquete-Kommission zur Untersuchung linker Strukturen eingesetzt hat.

Um zu verstehen, welche Konsequenzen eine solche Diskursverschiebung haben kann, lohnt ein Blick nach Österreich: Seit Oktober 2017 regiert hier das rechtskonservative Bündnis aus ÖVP und FPÖ. Innerhalb weniger Monate hat die Koalition mit dem Umbau des Landes begonnen. Sie kürzte Sozialleistungen und verschärfte die Asylpolitik, zog gegen kritische Medien und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Felde, führte den 12-Stunden-Arbeitstag ein und weitete Überwachungstechniken aus. Vielen politischen Bildungsträgern und Vereinen wurden Mittel gestrichen. So etwa diversen Gewaltschutz-Projekten, feministischen Initiativen und Integrationsprogrammen.

Was bedeutet der neue rechte Tenor für linke AkteurInnen in Österreich? Wie sehr hat sich ihr Alltag gewandelt? Und welche Wege beschreiten sie, um trotz widriger Umstände ihre Arbeit fortzusetzen? Die Veranstaltung versucht diesen Fragen auf den Grund zu gehen und anhand der österreichischen Erfahrungen eigene Strategien zu entwickeln, wie sich unter einem rechten Kurs trotzdem noch emanzipatorische Politik betreiben lässt.

ReferentInnen/DiskutantInnen:
Thomas Rammerstorfer, freier Journalist und Publizist
Marina Wetzlmaier, Journalistin

Ausweitung des Symbole-Gesetzes: Augenauswischerei der Regierung

Kritisches zur geplanten Ausweitung des Symbole-Gesetzes

Schmiererei der Grauen Wölfe („bozkurt“) in Feldkirch

Ende September kündigte die Regierung eine Verschärfung des Symbole-Gesetzes an. Ein entsprechender Antrag von Innenminister Kickl befindet sich seit 2. Oktober in der vierwöchigen Beobachtungsphase. Derzeit umfasst das Bundesgesetz die Verbote der Symbole des IS und von Al-Quaida (siehe hier ).

Kickl und Co. möchten sie ergänzt sehen, und zwar soll „aufgrund aktueller Entwicklungen im In- und Ausland“ (1) der „Anwendungsbereich auf folgende – den Grundprinzipien eines Rechtsstaats widersprechende – Gruppierungen“ erweitert werden: die „sunnitisch-islamistische“ Muslimbruderschaft, die „rechtsextremen türkisch-nationalistischen“ Grauen Wölfe, die „separatistisch-marxistische“ Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die „palästinensische islamistische“ Hamas, der „militärische Teil“ der Hisbollah, die „kroatische faschistische“ Ustascha sowie ganz generell „Gruppierungen, die in Rechtsakten der Europäischen Union als terroristische Organisationen angeführt werden: die Bezeichnung dieser Gruppierungen soll durch Verordnung der Bundesregierung erfolgen“.
Der letzte Halbsatz ist durchaus interessant. „Ernennt“ die Bundesregierung qua Verordnung „terroristische Organisationen“? Das wäre das Ende der Gewaltenteilung wie wir sie kennen, nur so nebenbei erwähnt. Auch die Begründung „aufgrund aktueller Entwicklungen“ lässt Fragen offen. Denn ausnahmslos alle genannten Gruppen sind seit vielen Jahrzehnten aktiv, der Grad ihrer Aktivitäten in Österreich hat auch in jüngster Vergangenheit nicht merklich zugenommen.

Aber egal! Für Otto Normalverbraucher hört sich das wohl mal so schlecht nicht an. Wer mag schon Terror und Extremismus? Doch…

…der Teufel liegt im Detail

Denn es ist keineswegs so, dass alle diese Gruppierungen ein Symbol benutzen würden, dass wie ein eingetragenes Warenzeichen einzig für sie steht und mit einem Gesetz einfach verschwindet. Vielmehr benutzen die meisten eine ganze Menge an Gesten, Grüßen, Floskeln, Parolen, Symbolen, Organisationsnamen, Memes usw…

Man nehme die „Grauen Wölfe“. Deren Hauptströmung, die Partei MHP, benutzt drei Halbmonde als Parteilogo. Häufig ist auch ein Wolf zu sehen oder ein Wolf in einem Halbmond. Dazu kommen die Symbole und Logos der „Türkischen Föderation“, also des Dachverbandes der „Grauen Wölfe“ in Österreich und die der ca. 20 Teilvereine. Alles verbieten? Partei, Föderation und Vereine sind legale Organisationen, in der Türkei wie in der EU. Kann man die Symbole legaler Organisationen kriminalisieren? Wohl kaum. Soll man Bilder von grauen Wölfen verbieten? Und dann wäre noch der Wolfsgruß, der auch dem Handzeichen des „Schweigefuchs“ entspricht. Ihn zu verbieten träfe die MHP-Strömung zweifellos. Nicht aber z. B. die Abspaltung der BBP, deren Moschee am Wiener Antonsplatz bei der Moschee-Schließungs-Farce im Juni eine Rolle spielte. Das von ihr verwendete Handzeichen, der Tauhid-Finger, würde legal bleiben.

Dann gibt es die PKK, die bereits verboten ist. Und zwar nicht nur deren militärischer Arm, sondern die gesamte Partei. Gerade das Verbot hat die Symbolwelt der einzelnen mit ihr sympathisierenden Strömungen und Gruppen ausufern lassen. In Deutschland sind dutzende angebliche PKK-Symbole verboten, ebenso die Symbole der syrischen KurdInnen. Häufig werden diese Fahnen aber auch von der demokratischen kurdischen und/oder linken Opposition verwendet. Diese weiter zu kriminalisieren wäre ausgesprochen unklug, es sei denn man möchte den Grauen Wölfen oder Herrn Erdoğan einen großen Gefallen tun (es wäre nicht das erste Geschenk, welches dieser von der österreichischen Regierung erhalten würden).

Mit Herrn Erdoğan wären wir beim nächsten Problemfeld, den Symbolen der Muslimbruderschaft. Eines davon, den 4-Finger-Gruß, auch „R4abia“-Zeichen, hat sich dieser zu eigen gemacht, und mit ihm Teile seine Anhängerschaft. Entstanden ist es erst vor wenigen Jahren in der Protestbewegung gegen die Militärdiktatur in Ägypten. Verwendet wird es nicht nur von den Muslimbrüdern, sondern auch von anderen Oppositionellen. Die Muslimbrüder sind auch nicht so ein homogener Block, wie es sich der kleine Herbert vielleicht vorstellen mag. Aus der seit den 1920ern bestehenden Strömung des politischen Islam sind recht unterschiedliche Gruppen hervorgegangen: Die terroristische Hamas (Flagge: die Schahada auf grünem Hintergrund/Emblem: Felsendom mit gekreuzten Schwertern, Karte Israels und palästinensischen Fahnen) ebenso wie die demokratische Ennhada-Partei (Symbol: blaue Taube mit rotem (!) Stern) in Tunesien. Was will man verbieten? Man darf gespannt sein.

Dann wären noch die „Gruppierungen, die in Rechtsakten der Europäischen Union als terroristische Organisationen angeführt werden“ und die die Regierung dann „bezeichnet“. Wahrscheinlich ist hier die so genannte „EU-Terrorliste“ gemeint. Wen hätten wir denn da… da wären bereits erwähnte Gruppen wie die PKK, die Hamas und der militärische Arm der Hisbollah. Dazu kämen noch gut 15 weitere: etwa Babbar Khalsa, eine militante Sikh-Gruppe aus Indien, die „Befreiungstiger“ von Sri Lanka, der „Leuchtende Pfad“ aus Peru oder die Kommunistische Partei der Philippinen. Alles Organisationen, die Freiheit und Demokratie in Österreich jeden Tag bedrohen. Oder eigentlich nicht. Sie spielen hier nicht die geringste Rolle.

Da wirds also bald noch jede Menge verbotener Symbole zu lernen geben für Österreichs PolizistInnen. Es sei denn, die Regierung stoppt den Unfug und beginnt statt dessen mit Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik… das würde uns nachhaltig vor Extremismus bewahren (und vor solchen Regierungen). Man könnte auch manche bereits bestehende Gesetze, etwa gegen Verhetzung, anwenden. Aber nein: Es geht nicht um sinnvolle Strategien, sondern um billige Schlagzeilen und das Jubelgeschrei des Boulevards.

Apropos: Nicht verboten werden sollen die Zeichen der rechtsextremen Identitären sowie die der serbischen Ultra-Nationalisten. Sicherlich nur ein Zufall, dass beide der FPÖ nahe stehen.

(1) Dieses und folgende Zitate aus Kickl, „Vortrag an den Ministerrat“, vom 2. Oktober 2018

„Es war ein Türke!“ Ein Lehrstück über Vorverurteilungen, aufgeführt in Wels

Am 17. Dezember 2016 veröffentlichte die Landespolizeidirektion Oberösterreich eine Presseaussendung bezüglich eines Vorfalles, der sich am 8. Dezember in Wels ereignet haben soll:

„Sexueller Übergriff durch einen Taxilenker. In den frühen Morgenstunden des 8. Dezember 2016 kam es in Wels zu einem sexuellen Übergriff auf eine Frau. Auf einem Parkplatz in der Nähe ihres Wohnhauses wurde der Taxilenker zudringlich. Die Frau wehrte sich und stieß den Mann von sich. Das Opfer, das laut eigenen Angaben alkoholisiert war, konnte sich jedoch nicht weiter zu Wehr setzen. Der Taxilenker nützte offensichtlich den Zustand der Frau sowie ihre Wehrlosigkeit aus. Es kam zu sexuellen Handlungen. (…) Aufgrund umfangreicher Erhebungen der Polizei Wels konnte der Beschuldigte ausgeforscht und festgenommen werden. Er wurde nach Anordnung der Staatsanwaltschaft Wels in die Justizanstalt Wels eingeliefert.“

Nationalität oder Migrationshintergrund des mutmaßlichen Täters wurden nicht erwähnt. Auch das Wort Vergewaltigung kam nicht vor. Beides brachte die Stadt Wels in einer Meldung, die Wort für Wort ident auch von der FPÖ Wels übernommen wurde, ins Spiel:

„Schockiert zeigt sich der Welser Sicherheitsreferent Vizebürgermeister Gerhard Kroiß über Medienberichte, denen zufolge sich ein Taxilenker am 8. Dezember in Wels an einer Kundin vergangen haben soll. Laut Polizei konnte der verdächtigte türkische Taxifahrer ausgeforscht und in Untersuchungshaft genommen werden. „Wenn die Vorwürfe des mutmaßlichen Opfers stimmen, und es tatsächlich zu einer Vergewaltigung im Taxi gekommen ist, muss das Gesetz mit voller Härte gegen den Beschuldigten angewandt werden. (…)“ Da es sich laut Medienberichten um einen türkischen Taxilenker handelt, wird von Vizebürgermeister Kroiß bei einer Verurteilung die sofortige Abschiebung des Täters gefordert.“

Erwähnenswert ist hier auch, dass die Politik gleich der Justiz zu diktieren versucht, wie sie sich in dem Fall zu verhalten hat. Von Gewaltentrennung hat Vizebürgermeister Kroiß (FPÖ) offenbar noch nichts gehört. Jedenfalls lief eine Lawine an Vorverurteilungen an.

„Taxilenker belästigte wehrlose Welserin sexuell. Ausgeforscht und festgenommen wurde ein Taxilenker, der am 8. Dezember eine junge Frau auf der Heimfahrt vergewaltigt hat.“ (OÖN, 17. 12. 2016) und „Der türkische Taxilenker soll den Zustand der Frau ausgenützt haben.“ (OÖN, 19. 12. 2016)
„Welser Taxi-Vergewaltigung: Es war ein Türke!“ schrieb der „Wochenblick“ am gleichen Tag und phantasierte: „Bereits am 8. Dezember kam es in Wels zu einer Vergewaltigung durch einen Taxifahrer. Langsam sickert durch, dass es sich beim mutmaßlichen Täter um einen Türken handeln soll. Manche Medien verschweigen aus Rücksicht auf die international angespannten Beziehungen mit der Türkei diese Information.“
„21-Jährige in Taxi vergewaltigt: Lenker in U-Haft (…) Sex-Attacke in Taxi: Im oberösterreichischen Wels ist es zu einem Übergriff auf eine 21-Jährige gekommen. Der Taxilenker türkischer Abstammung soll sich an der jungen Frau vergangen haben.“ (Krone, 17. 12. 2016)

Gemeinsam hatten fast alle Berichte:

1. Der Verdacht wurde als Tatsacheninformation behandelt
2. Die von der Polizei nicht näher definierten „sexuellen Handlungen“ wurden als „Vergewaltigung“ bezeichnet
3. Der mutmaßliche Täter wurde zum „Türken“ – obschon er die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt

In den „sozialen Medien“ sorgten diese Informationen für den leider zu erwartenden Aufruhr. Und da sprechen wir nicht nur vom blau-braunen Sumpfgebiet. Schauen wir mal zur ÖVP. Dort postete Vizebürgermeister Lehner: „Die Situation (…) hat mit der Vergewaltigung einen traurigen Höhepunkt erreicht.“ Der ehemalige Welser ÖVP-Fraktionsobmann Carl-Georg Holter kommentierte den Beitrag: „Und schon wieder ein Türke. Schickt alle heim, dann muss sich unser Aussenminister auch nicht von diesem Gesindel beschimpfen lassen!“. (Beiträge vom 17. 12. Sie sind bis heute, 22. 12. 2016, unverändert)
Am 21. 12. schließlich ein weiterer Artikel in den OÖN: „Nach Sex-Übergriff: Krisengipfel für Taxiunternehmer“ schlagzeilte man. Und dann wird es interessant. Denn gleich der nächste Satz widerspricht der „Sex-Übergriff“-Headline: „Weil kein Tatverdacht besteht, wurde verdächtiger Lenker aus Untersuchungshaft entlassen.“

Oha. Wie geht es weiter?
„Der mutmaßliche Täter wurde zu Wochenbeginn aus der U-Haft entlassen: „Es gibt keinen ausreichenden Tatverdacht für eine Vergewaltigung oder sonstige Straftaten. Auch ein sexueller Missbrauch liegt nach unseren Erkenntnissen nicht vor“, begründet Christian Hubmer von der Welser Staatsanwaltschaft. Details zu dem Vorfall wollte er nicht preisgeben.“

Jetzt muss ich mal einwerfen: Das heißt jetzt nicht, dass es zu keinen strafrechtlich relevanten Handlungen gekommen sei. Es kam ja in der Vergangenheit auch vor, dass sexuelle Übergriffe von Behörden verharmlost wurden. Dennoch müssen wir uns hier vorerst mal auf die Staatsanwaltschaft und die Polizei verlassen, laut denen es eben momentan keinen „ausreichenden Tatverdacht“ oder sonstige „Erkenntnisse“ gibt. Das ist schlicht und ergreifend der Stand der Ermittlungen.

Und jetzt raten Sie mal, wie viele der Schaumschläger aus Politik und Medien bis jetzt den Anstand hatten, ihre Behauptungen zurückzunehmen, vielleicht sogar mit einem Ausdruck des Bedauerns?

Die Mitte und die raue See

aus gfk (Gesellschaft für Kulturpolitik) 01/2016
„Mitte. Eine Frage der Kultur“
www.gfk-ooe.at

Als sich im Revolutionsjahr 1789 die Abgeordneten zur ersten ständeübergreifenden französischen Nationalversammlung einfanden, ahnten sie wohl nicht dass ihre Platzwahl noch über 200 Jahre später als Schema für politische Kategorisierungen dient. Links die Progressiven, rechts die Konservativen, so sollte es bleiben, für alle Zeiten. Doch bald wurde alles ein bisschen komplizierter: Liberalismus, Demokratie, Nationalismus, Marxismus, Anarchismus und fröhliche weitere –ismen fanden ihre AnhängerInnen, die sich alsbald darum (und jeweils untereinander) stritten, wer nun linker oder rechter, gemäßigter oder radikaler sein wollte und wirkte. Gegen das Gezeter der Flügelkämpfer brachten sich nun Parteien der Mitte in Stellung. Und die Mitte sprach: Wir sind vernünftig. Die anderen stürzen uns mit ihrem Extremismus ins Verderben. Doch die ihr (von sich selbst) zugedachte Rolle der Unschuld vom Lande konnte die Mitte nur selten erfüllen.
Die politische Mitte der Zwischenkriegszeit war vor allem christlich geprägt. Die besitzenden Stände, Bürger und Bauern, dominierten die Parteien und schrieben deren Programme. Mit den sich im 19. Jahrhundert herausgebildeten christlichen Soziallehren konnte man aber auch zumindest das provinzielle Proletariat ansprechen. Über weite Strecken der 1920er regierten die Konservativen Deutschland und Österreich. Und regieren können Konservative ganz gut, so lange sich das Weltenschiff in halbwegs ruhigen Gewässern befindet. In stürmischen Zeiten jedoch weniger. Und der Sturm kam 1929 mit der Weltwirtschaftskrise. In Deutschland zerbröselte die Mehrheit der Mitte und der – sich inhaltlich den Konservativen aufopfernden – SozialdemokratInnen. Und weil man die Nazis zwar doof fand, sie aber wenigstens nicht an der angeblichen Rechtmäßigkeit des Besitzes der Besitzenden rüttelten, unterstützte man sie. So kam es, dass 1933 sämtliche Abgeordneten der konservativen Parteien – immerhin noch mehr als hundert – für Hitlers Ermächtigungsgesetz und damit für die NS-Diktatur stimmten.
In Österreich beschränkten sich die Konservativen nicht auf die Rolle der Steigbügelhalter des Faschismus. Nein, man wollte diesen hässlichen Gaul selber reiten. Wie in anderen Staaten Süd- und Osteuropas radikalisierten sich Christlich-Konservative zum Faschismus. Ein Phänomen, für das der US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset den Begriff „Extremismus der Mitte“ prägte. Sie besagt, dass in Krisenzeiten weite Teile der so genannten „Mitte“ ihre vermeintlich hehren Werte und Ideale über Bord zu werfen bereit sind.
Nach 1945 war die Mitte nicht mehr wiederzuerkennen. Man bekannte sich – teils aus ehrlicher Überzeugung, teils aus Opportunismus – glühend zu Demokratie und Menschenrechten. Deutschnationalismus und Antisemitismus waren verpönt. Ja, selbst die allein seelig machende Wirkung der kapitalistischen Produktionsweise durfte in den ersten Programmen der CDU und der ÖVP angezweifelt werden. Entsprechende Passagen über einen „christlichen Sozialismus“, etwa aus dem Ahlener Programm der deutschen ChristdemokratInnen, wurden allerdings mit Beginn des Kalten Krieges rasch entsorgt. Die Schrecken des „Dritten Reiches“ im Hinterkopf und die des „Realsozialismus“ vor Augen wähnte sich die Mitte spätestens ab Ende der 1940er wieder als der großen moralischen Sieger der Geschichte, oder zumindest als letzten Hort der Besonnenheit. Gesellschaftspolitisch lief man wenig begeistert, aber doch, den Geister der Zeit hinterher.
Mit der ideellen und quantitativen Erosion des Proletariats begann auch die Sozialdemokratie sich vermehrt um die Mitte zu bemühen. Gemeinsam standen schwarz und rot für soziale Marktwirtschaft, gemeinsam aber schließlich auch für den neoliberalen Umbau dieser.
Dadurch ist die See wieder rauer geworden. Wirtschaftskrise, die Folgen der Kriege rund um Europa, Sozialabbau, das Erstarken rechtsextremer Parteien… wie re(a)gieren die Parteien der Mitte? In höchstem Maße unterschiedlich. Die Deutschen werden von ihrer erfahrenen Kapitänin stabil auf Kurs gehalten, hier zählen auch noch Werthaltungen, und nicht nur materielle Werte. Wie lange Frau Merkel dem Wind von rechts stand hält weiß man jedoch nicht. Blickt man in den Osten unseres Kontinents muss man sich größere Sorgen machen. Vermeintlich Konservative bauen vielfach fleißig ab: demokratische Rechte, menschliche Werte, die europäische Integration. Sie packeln geschichtsvergessen und schamlos mit offenen Faschisten. Sie müssen Schiffbruch erleiden.

Thomas Rammerstorfer