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Rede bei der Gedenkfeier für die Opfer der Todesmärsche ungarischer Juden 1945 und des Genozids an den ArmenierInnen 1915 am 23. April 2015 in Wels

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte Sie im Namen der Welser Initiative gegen Faschismus zu der Gedenkfeier für die Opfer der Todesmärsche ungarischer Juden 1945 und des Genozids an den ArmenierInnen 1915 sehr herzlich begrüßen.

Im Frühjahr 1945 wurden die ungarischen Juden und JüdInnen auf Todesmärschen quer durch die damalige „Ostmark“ getrieben, u. a. durch Thalheim und Wels in das KZ Gunskirchen. Tausende starben während oder an den Folgen der Deportation.

Am 24. April 1915 begann mit einer Verhaftungswelle im damaligen Osmanischen Reich der Völkermord an den ArmenierInnen und anderer christlicher Minderheiten. Der Großteil der Opfer starb auf Todesmärschen in die Wüste des heutigen Syriens.

Zwei historische Ereignisse, die bei allen Unterschieden in Zeit und geographischem Raum auch jede Menge Parallelen aufweisen. In beiden Fällen wurde eine Bevölkerungsgruppe immer wieder für Krisen und Niederlagen verantwortlich gemacht, des Verrates und der Verschwörung beschuldigt, bis die rassistischen Vorurteile schließlich in genozidaler Raserei gipfelten. Aus diesem Grund wollen wir der Ereignisse heuer gemeinsam gedenken.

„Wer spricht den heute noch von den Armeniern?“ fragte Adolf Hitler am 22. August 1939. In wenigen Tagen sollten die Nazis Polen überfallen, die Pläne für die industrielle Massenvernichtung des europäischen Judentums nahmen Gestalt an. Hitler war über den Völkermord an den ArmenierInnen informiert, er befragte damals in der Region aktive Beamte zum Thema. Der Genozid war ohne Folgen geblieben, die Täter meist ungestraft davon gekommen, die Opfer nie entschädigt; das Vergessen erlaubte das Wiederholen, zumindest nach den unmoralischen Maßstäben der Nazis. Zum Vergessen leisteten sie ihren aktiven Beitrag: Franz Werfels „40 Tage des Musa Dagh“, dass die Tragödie des armenischen Volkes – wie Werfel es ausdrückte – „dem Totenreich alles Vergessenen entreißen“ wollte, wurde in Nazideutschland verboten und verbrannt.

Warum die Armenier? Warum die Juden?

Diese Fragen drängen sich zwangsläufig auf. Fremdenhass und Vorurteile richten sich gegen viel ethnische und religiöse Gruppen, aber nur in den seltensten Fällen führen sie zum Genozid. Ich möchte versuchen, mich einer Antwort anzunähern.

Wie die Jüdinnen und Juden in vielen europäischen Staaten waren den ArmenierInnen und anderen Angehörigen der christlichen Minderheit viele Berufe verwehrt. Eine Beamten- oder Offizierslaufbahn war nicht erlaubt. Ein, gemessen an der Gesamtbevölkerung, relativ großer Teil war deswegen im Handel und im, bei Muslimen damals verpönten, Bankenwesen aktiv. In Krisenzeiten, und das Osmanische Reich befand sich in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz immer in Krisenzeiten, gab die armenische Bevölkerung einen nachgerade optimalen Sündenbock.

Antisemitische und antiarmenische Stereotype ähnelten und ähneln sich auf frappierende Art und Weise: Rassistische Eiferer zeichneten das Bild eines gierigen, verschlagenen Volkes, das mit ausländischen Mächten kooperiert und sich gegen das Heimatland stellt. Ein Volk, das noch dazu eine gewisse Affinität zu demokratischen, liberalen oder gar revolutionären und sozialistischen Ideen hatte – wie viele benachteiligte Minderheiten damals.

„Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt.“ befand der deutsche General Fritz Bronsart von Schellendorf.

Wie die ArmenierInnen waren auch die JüdInnen nicht von einem Rassismus gegen vermeintlich Dümmere oder Minderwertigere betroffen. Vielmehr wurde ihnen besondere Intelligenz nachgesagt, eine boshafte Intelligenz, die sie stets nur zu ihrer eigenen Bereicherung nutzten.

Schon im 19. Jahrhundert starben zigtausende ArmenierInnen bei Pogromen. Ihre bürokratisch organisierte Vernichtung sollte 1915 beginnen. Kurz davor hatten die Turanisten die Macht im Osmanischen Reich übernommen, eine ultranationalistische, rassistische Bewegung. Ihre ideologischen Wiedergänger sind heute als „Graue Wölfe“ bekannt und aktiv.

In den Wirren des Ersten Weltkrieges, an dem das Osmanische Reich an der Seite Österreich-Ungarns und Deutschlands kämpfte, sahen die Turanisten die Möglichkeit ihre Pläne zu realisieren: Ein von den ethnischen Minderheiten gesäubertes, groß-türkisches Reich. Insbesondere gen Osten strebte man die Vereinigung mit den Turkvölkern des Kaukasus und darüber hinaus an. Mit der Vernichtung der ArmenierInnen wollte man sich diesem geographischen und bevölkerungspolitischen Ziel annähern. Darüber hinaus hatte die Vernichtung simple materielle Gründe: Der geraubte Besitz von rund 2 Millionen Menschen sollte dem türkischen Volk über die Folgen von Krieg und Krise hinweghelfen – eine weitere Parallele zur Shoah, wo das Beutegut der deutschen Bevölkerung half, den Krieg durchzustehen.

Die Anzahl der Getöteten ist bis heute umstritten: Manche Quellen sprechen von Hunderttausenden, andere von bis zu 2 Millionen. „Gerechte“ gab es auch damals; eine ganze Reihe türkisch-muslimischer Landräte und Provinzgouverneure wurde wegen ihrer Weigerung, sich am Völkermord zu beteiligen, abgesetzt oder gar ermordet. Dafür stand das deutsche Militär den Mördern zur Seite und beteiligte sich an der Ausrottung ihrer christlichen Glaubensbrüder; das ebenfalls verbündete Österreich-Ungarn schwieg aus bündnistaktischer Rücksichtnahme.

Kobane, Dair az-Zaur, Al Rakka,… Stationen des armenischen Kreuzweges in die Wüste, ins Nichts, wo die, die die Todesmärsche überlebt hatten, ihr Ende fanden. Hundert Jahre später ist in diesen Killing Fields der so genannte „Islamische Staat“ an der Macht, der wiederum die christlichen und viele andere Minderheiten mit mörderischem Hass verfolgt. Das passiert heute, in diesen Tagen.

Mit diesem Ankommen im Hier und Jetzt möchte ich schließen, er soll uns zeigen, dass es mit dem Gedenken längst nicht getan ist, dass das Töten nicht vorüber ist. In einigen Teilen der Welt können Angehörige der armenischen Minderheit nicht in Frieden und Sicherheit leben; ebenso wenig wie die Juden und Jüdinnen, die nach wie vor Zielscheibe rassistischer und religiöser Fanatiker werden.

Aber wenn jemand fragt: „Wer spricht heute noch von den Armeniern?“, dann kann man sagen: „Wir!“. Und wir werden so lange von ihnen sprechen, bis auch die Offiziellen der Republik Türkei einen Versöhnungsprozess beginnen und ihre historische Verantwortung eingestehen. Als Bewohner eines Landes, das viele Jahrzehnte seine Mitverantwortung für die Vernichtung der Juden leugnete, weiß ich, das kann lange dauern, aber irgendwann klappt es bestimmt. Danke.

23. 4. 2015 in Wels: Gedenkfeier für die Opfer der Todesmärsche ungarischer Juden 1945 und des Genozids an den ArmenierInnen 1915

Im Frühjahr 1945 wurden ungarischen, jüdische ZwangsarbeiterInnen auf Todesmärschen quer durch die damalige „Ostmark“ getrieben, u. a. durch Thalheim und Wels in das KZ Gunskirchen. Tausende starben während oder an den Folgen der Deportation.

In der Nacht von 23. auf 24. April 1915 begann mit einer Verhaftungswelle im damaligen Osmanischen Reich der Völkermord an den ArmenierInnen und anderer christlicher Minderheiten. Der Großteil der 1 bis 1,5 Millionen Opfer starb auf Todesmärschen in die Wüste des heutigen Syriens.

Zwei historische Ereignisse, die bei allen Unterschieden in Zeit und geographischem Raum auch jede Menge Parallelen aufweisen. In beiden Fällen wurde eine Bevölkerungsgruppe immer wieder für Krisen verantwortlich gemacht, des Verrates und der Verschwörung beschuldigt, bis die rassistischen Vorurteile schließlich zu genozidaler Raserei führten. Aus diesem Grund wollen wir der Ereignisse heuer gemeinsam gedenken.

Begrüßung:

Hermann WIMMER
Vizebürgermeister der Stadt Wels

Redner:

Gerhard HADERER
Zeichner

Thomas RAMMERSTORFER
Welser Initiative gegen Faschismus

Friedhof Wels (Nordteil, beim Jüdischen Mahnmal)

„Die armenische Frage existiert nicht mehr“[1]

 

aus CONTEXT XXI, Ausgabe 5/6 2005

Ein fast vergessener Völkermord

„Der kranke Mann am Bosporus“
… war vor dem ersten Weltkrieg eine gängige Bezeichnung unter europäischen Diplomaten für das vor sich hin siechende Osmanische Reich. Von 1800 bis Anfang des 20. Jahrhunderts verloren die Osmanen einen großen Teil ihres einst gewaltigen Reiches: Bosnien-Herzegowina, Serbien, Albanien, Makedonien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Bessarabien, Ägypten – die europäischen Großmächte, allen voran Russland, England und Frankreich bedienten sich Stück für Stück am osmanischen Kuchen. Mittels diplomatischer Finten, der Initiierung und Förderung nationalistischer Aufstände in der Peripherie und offenen Kriegen. Immer wieder gebärdeten sich England, Frankreich, Russland und zeitweise auch Österreich bzw. Österreich-Ungarn auch als Schutzmächte der unter osmanischer Herrschaft lebenden ChristInnen und erpressten so territoriale Zugeständnisse. Die osmanische Herrscherdynastie hatte dem wenig entgegen zu setzen: die Wirtschaft hatte den Anschluss verloren und wurde durch Billigimporte aus den Kolonien vor allem Englands weiter geschwächt[2], eine bürokratische Administration unter größtenteils unfähigen Monarchen und eine veraltete Armee mit ebenso unfähigen Befehlshabern – insbesondere innerhalb der türkischen, muslimischen Mehrheitsbevölkerung entstand ein Gefühl „der Schwäche und des Verfalls“[3].

Die Jungtürken

Bei gescheiterten Mittelständlern, Studenten und jungen Offizieren fielen säkulare, republikanische und nationalistische Ideen auf fruchtbaren Boden – die so genannte jungtürkische[4] Bewegung entstand als breite Sammlung unterschiedlicher politischer und nationaler Gruppierungen, deren Ziel die gänzliche oder teilweise Entmachtung des Sultanats und Schaffung eines „modernen“ Staatswesens nach Vorbild der europäischen Staaten war. Innerhalb der jungtürkischen Bewegung waren die ethnischen Minderheiten anfangs durchaus gut vertreten – viele ArmenierInnen, TscherkessInnen, GriechInnen, BulgarInnen, JüdInnen, Aseris etc. erhofften sich durch einen Sturz der Monarchie und ein Zurückdrängen des Islamismus mehr Rechte zu erhalten. Insbesondere die ArmenierInnen und ihre stärkste politische Partei, die Daschnakzutjun[5], erwarteten sich von einer Republik eine Verbesserung ihrer Lage und ein Ende der immer wieder aufflackernden Pogrome.
Staatlich gelenkte Pogrome hatten von 1894–1896 bis zu 300.000 ArmenierInnen das Leben gekostet. Um von ihrer eigenen Unfähigkeit abzulenken, hatten die osmanischen Herrscher die Bevölkerung immer wieder je nach Bedarf gegen die ArmenierInnen aufgehetzt.[6] Der deutsche Botschafter Wangenheim äußerte sich verständnisvoll über den anti-armenischen Pöbel. Die „Armeniermassakres“ seien „nur die natürliche Reaktion auf das Aussaugesystem der armenischen Geschäftsleute“[7], die Armenier seien eben die „Juden des Orients“.[8]
1908 kam es zum Umsturz im Osmanischen Reich. Die Jungtürken eroberten die Macht – Sultan Abdulhamid wurde abgesetzt und durch seinen Bruder Mehmed V. ersetzt, dessen Machtbefugnisse sich allerdings nur mehr auf Zeremonielles beschränkte. Die eigentliche Macht im Staate waren nun die Jungtürken, insbesondere deren radikal säkular-nationalistischer Flügel ittihat ve terraki[9] um Enver Pascha und Talat Pascha. Die ittihad ve terraki war stark im Militär verankert und konnte ihren Einfluss auch nach den Niederlagen im Konflikt mit Italien 1911[10] und in den Balkankriegen 1912/13[11] ausdehnen, so dass sich de facto ab 1913 eine Einparteiendiktatur, geleitet vom Triumvirat Enver Pascha, Talat Pascha und Dschemal Pascha manifestierte.

„Es ist erforderlich, das armenische Volk vollständig auszurotten …“

Im November 1914 trat das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands, Österreich-Ungarns und Bulgariens in den Weltkrieg ein. Der Krieg an der Seite der Deutschen, mit denen schon eine lange intensive wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit bestand, sollte den Türken die Möglichkeit geben, einerseits dem Erbfeind Russland eine Niederlage zu bereiten und verlorene Territorien vor allem auf dem Balkan und im Kaukasus wiederzugewinnen.
Aus dem Vielvölkerreich sollte ein ethnisch homogener Nationalstaat werden, der alle „Turkvölker“, also auch Aseris, Turkmenen etc. vereinen sollte. Dem im Weg standen die nicht-türkischen und nicht-moslemischen Minderheiten, allen voran die christlichen ArmenierInnen, deren „millets“[12] vor allem im ostanatolischen Raum der Vereinigung der „Turkvölker“ nach Sicht der türkischen Nationalisten im Weg standen. In den Wirren eines großen Krieges sollte es möglich sein, vor allem die ArmenierInnen loszuwerden. Nazim Bey, führender Ideologe des Pantürkismus und Politiker der ittihad ve terraki formulierte es so: „Es ist (…) erforderlich, das armenische Volk vollständig auszurotten, so dass kein einziger Armenier auf unserer Erde übrigbleibt und der Begriff Armenien ausgelöscht wird.“
Während der Krieg die Osmanen bald in eine nahezu aussichtslose militärische Lage brachte – die russische Armee rückte im Kaukasus vor, die britischen und französischen Truppen griffen in Nordafrika und Arabien sowie die Meerenge der Dardanellen an – begann die ittihad ve terraki ihre Vernichtungspläne gegen die ArmenierInnen in die Tat umzusetzen. Die schwierige Situation an den Fronten erwies sich dabei sogar als hilfreich, da hierfür wiederum die ArmenierInnen verantwortlich gemacht wurden, denen unterstellt wurde mit der russischen Armee zu kooperieren – eine Behauptung, die nur für eine Minderheit zutreffend war, die überwiegende Mehrheit der ArmenierInnen verhielt sich loyal zum Osmanischen Reich. Weiters machte sich die ittihad ve terraki – obwohl selbst säkular – religiöse Vorurteile zu nutzen. So begann die teskilat i mahsusa, eine Spezialeinheit der Regierungspartei, mit Hilfe von kurdischen Banden, aus Sträflingen und Kriegsflüchtlingen zusammengestellte „Hilfstruppen“ sowie regulären Armee- und Polizeieinheiten mit der Deportation der armenischen Bevölkerung, vorerst aus den nahe der Kaukasus-Front gelegenen Dörfern und Städten.
Die Aktionen gegen die ArmenierInnen verliefen regional sehr unterschiedlich, aber zumeist nach etwa folgenden Muster: Zuerst wurden die armenischen Soldaten aus der Armee entfernt und in Straf- und Arbeitsbataillone gesteckt, wo sie zumeist im Straßenbau an der Kaukasusfront beschäftigt waren. Dann kam es zur Verhaftung der jeweiligen Notabeln, also von Regionalpolitikern, Geistlichen, Ärzten, etc. Anschließend erhielten mal ganze Dörfer oder Städte, mal vorerst nur die „wehrfähige“ männliche Bevölkerung zwischen 16 und 60 den Evakuierungsbefehl. Ein Teil davon wurde bei erster Gelegenheit erschossen, wie der damalige US-amerikanische Diplomat Henry Morgenthau berichtet: „Hier und da trieb man 50 oder 100 Männer zusammen (…) und führte sie an einen Ort nicht weit vom Dorf entfernt. Plötzlich ertönten Gewehrschüsse. (…) In einigen Fällen, die mir bekannt wurden, hatten die Mörder die Leiden ihrer Opfer noch erhöht, indem man sie zwang, ihre eigenen Gräber auszuheben, bevor sie erschossen wurden.“[13] Die Situation verschärfte sich, als die Bedrohung der Dardanellen und somit Istanbuls durch die britische Marine unter Winston Churchill immer größer wurde. Die ittihad ve terraki plante, den Widerstand nach einem Fall Istanbuls vom anatolischen Kernland fortzusetzen – zuvor galt es aber den angeblichen „inneren Feind“ dort zu vernichten. Die steigende Zahl der Armenier, die sich vor der Zuteilung in Arbeitsbrigaden, die oft den sicheren Tod bedeutete, durch Desertion entzog, „bestätigten“ die Behauptungen türkischer Scharfmacher, die ArmenierInnen würden mit dem „Feind“ kooperieren.
Nach Abwehr des britischen Angriffs auf die Dardanellen brachte der 24. April 1915 eine Verhaftungs- und Deportationswelle in Istanbul. Ab Mai 1915 befanden sich hunderttausende ArmenierInnen auf gewaltigen Märschen in Richtung der syrischen und irakischen Wüste. Zehntausende wurden gleich an ihren Heimatorten ermordet. Es kam zu Kreuzigungen, Vergewaltigungen, zur Tötung durch medizinische Versuche, als armenischen Soldaten wie auch Kindern Typhuserreger geimpft wurden. Auch Versuche mit Vergasungen wurden unternommen: 1915 an armenischen Kindern in Trapesunt – der Raum war als Dampfbad getarnt.[14] Im Juni kam es zu einem gewaltigen Massaker bei der Kemah-Schlucht. Etwa 20–25.000 Menschen wurden – oft zu Dutzenden aneinander gebunden – in den Euphrat gestürzt. Wochenlang war der Fluss voller Leichen, die durch Kurdistan und den Irak dem Persischen Golf entgegen trieben.[15] Die meisten ArmenierInnen fielen jedoch nicht Massakern zu Opfer, sondern starben auf den endlosen Märschen in Richtung syrischer und mesopotamischer Wüste[16] an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Doch die Vernichtung durch Todesmärsche barg Gefahren für die Vernichter[17]: Der österreichische Militärbevollmächtigte in der Türkei, Joseph Pomiankowski, berichtet von einer Flecktyphusepedemie, die durch die armenischen Marschkolonnen verbreitet wurde, und „an welcher mindestens eine Million Mohammedaner zugrunde ging.“[18]

Die Vernichtung der ArmenierInnen – die Entstehung der Türkei

Wenn wir die Ereignisse oberflächlich betrachten, gäbe es für die türkische Republik keinen Sinn den Völkermord 1914/15 zu leugnen. Die ArmenierInnen wurden nach Plänen und von (para-)militärischen Einheiten des Osmanischen Reiches niedergemetzelt; eines Staates, den die Gründer der „modernen“ Türkei abgelehnt und letzten Endes abgeschafft haben. Dem türkischen Gründervater Kemal „Atatürk“ kann man so manches vorwerfen – eine direkte Beteiligung am großen Genozid aber nicht[19]. Der Grund für die türkische Realitätsverweigerung ist wohl eher darin zu suchen, dass die ArmenierInnenvernichtung überhaupt erst die Gründung der „modernen“ Türkei ermöglichte:
Unmittelbar vor Ausbruch des Weltkriegs „hatte die osmanische Statistik feststellen müssen, dass 66 Prozent des Binnenhandels, 79 Prozent der Industrie- und Handwerksunternehmen und 66 Prozent der akademischen Berufe sich in den Händen der christlichen Minderheiten, also der Griechen und Armenier, befanden.“[20] Es gab also keine türkische Bourgeoisie, stellte der Pantürkist Yusuf Achura bereits 1911 fest, „doch die Bourgeoisie bildet die Grundlagen aller modernen Staaten“.[21] Und die Grundlage der Republik Türkei bildet also nicht zuletzt der Besitz der ermordeten und vertriebenen ArmenierInnen und GriechInnen.
Die Profiteure der Türkisierung bildeten die Basis und waren die Finanziers von Kemal Atatürks Armee, die gegen die nach der Niederlage 1918 ins Land gekommenen englischen, französischen, italienischen und griechischen Besatzungstruppen ins Feld zog. „Die ersten, die sich im Nationalen Kampf bewegten, waren die Muslime, die die Handels- und Industriefirmen, die Häuser und Ländereien, die Wein- und Obstgärten der Griechen und Armenier beschlagnahmt hatten.“[22]
Der offizielle Gründungsmythos der Türkei lautet natürlich ein bisschen anders. Da ist die Rede von einem antiimperialistischen Befreiungskampf gegen die vielfach überlegenen Entente-Truppen. In Wahrheit zogen Frankreich, Italien und Großbritannien ihre Armeen bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten zurück – einerseits war die Bevölkerung in den Entente-Staaten unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs nicht auf einen neuen großen Krieg vorbereitet, andererseits hatte sich die geopolitisch-strategische Situation mit Entstehen der Sowjetunion geändert – gegen den Kommunismus konnte eine starke, unabhängige Türkei ein wichtiges Bollwerk werden. Den türkischen Nationalisten blieben die Griechen und die armenische Republik als Gegner übrig – beider konnten sie sich relativ rasch entledigen. 1926/27 wurde die Verteilung der „zurückgelassenen“ armenischen Güter endgültig rechtlich besiegelt. Die armenische Frage existiert seit diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Türkei.[23]
Die Zahl der zwischen 1914 und 1920 ermordeten ArmenierInnen beläuft sich auf zwischen 800.000 und 2 Millionen. Am häufigsten wird die Zahl von 1,5 Millionen (von 2,5 Millionen im osmanischen Herrschaftsgebiet lebenden) ArmenierInnen genannt. Je nach Berechnungsart inkludiert bzw. exkludiert diese Zahl die wahrscheinlich weit über 100.000 ArmenierInnen, die bei der Zerschlagung des unabhängigen Armeniens[24] von 1918–1920 niedergemetzelt wurden bzw. in Kämpfen fielen.

[1] Talat Pascha, 31. 8. 1916, zit. nach Lepsius, Deutschland und Armenien, Potsdam 1919

[2] Selbst einige ehemalige klassische Exportgüter des Osmanischen Reiches wie Stoffe, Kaffee und Zucker wurden nun aus Indien importiert.

[3] Zit. nach Lewis, Der Atem Allahs, Oxford 1964, S. 52.

[4] Benannt nach der im französischen Exil erschienenen Oppositionszeitung „Junge Türkei“.

[5] Haj Herpochakan Daschnakzutjun – Armenische Revolutionäre Föderation. Mitgliedspartei der 1. Internationalen.

[6] Zu den Ressentiments gegenüber den ArmenierInnen siehe Artikel von Thomas Schmidinger in diesem Heft.

[7] In einem Brief an Kanzler Bethmann-Hollweg, 23. 2. 1913 (www.armenocide.de).

[8] Ebenda.

[9] ittidhad ve terraki: Komitte für Einheit und Fortschritt

[10] Im Krieg um Tripolis.

[11] Mit Bulgarien, Serbien, Griechenland.

[12] Eigentlich „Nation“, im Sprachgebrauch des Osmanischen Reiches aber eine nach Religionszugehörigkeit gegliederte Selbstverwaltungeinheit mit eigenem Oberhaupt (mit beschränkten regionalpolitischen bzw. religiösen Befugnissen).

[13] Zit. nach Hosfeld, Operation Nemesis, Köln 2005, S. 145.

[14] Zit. nach Hoffmann, Annäherung an Armenien, München 1997, S. 99 ff.

[15] Hosfeld 2005, S. 199.

[16] Siehe Akcam, Armenien und der Völkermord, Hamburg 2004.

[17] Die Nazis zogen für ihr Vernichtungsprogramm „wertvolle“ Schlüsse aus den „Fehlern“ der Türken.

[18] Hoffmann 1997, S. 101.

[19] Bernd Rill, Kemal Atatürk, Reinbek 1985, S. 53.

[20] Hosfeld 2005, S. 261.

[21] Ebenda, S. 262.

[22] Nach Baskay, Istanbul 1991; zit. nach Caglar, Die Türkei zwischen Orient und Okzident, Münster 2003.

[23] In etwa ab diesem Zeitpunkt begann sich der türkische Chauvinismus dann verstärkt der „kurdischen Frage“ zu widmen .

[24] Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches entstand kurzfristig eine unabhängige Republik Armenien, die 1918 von türkischen Truppen überfallen wurde. Schließlich wurde ein Teil davon nach Einmarsch der Roten Armee die spätere Sowjetrepublik Armenien.