Was man braucht, um soziale Proteste zu ethnisieren – ein ukrainisches Lehrstück

In weltwirtschaftskrisengebeutelten Zeiten kommt es zwangsläufig zu sozialen Protesten. Trifft die globale Krise auf jede Menge hausgemachte bzw. regionale Missstände, kann eine Protestbewegung durchaus zum Machtfaktor werden, und wird somit auch für die geopolitischen Ränke der regionalen und globalen Player interessant. Diese unterstützen dann mitunter unterschiedliche Fraktionen in den destabilisierten Ländern, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Absage an jeglichen Klassenkampf sein muss. Das war in der Ukraine nicht allzu schwierig: Die Protestbewegung war von Beginn weitestgehend bürgerlich bis rechts orientiert, Gewerkschaften oder linke Parteien spielten keine große Rolle. Aber was braucht es noch, um eine Radikalisierung nach rechts voranzutreiben?

1. Die glorreiche Vergangenheit
Wer braucht denn bitte Brot und Rosen, wenn er zu Marschmusik hinter bunten Fähnchen herlaufen darf. Wenn er sich selbst nicht mehr als Individuum, sondern als Teil eines Volksganzen sieht, als Teil eines historischen Kampfes, den schon Väter, Großväter und Urgroßväter kämpften, für Nation und Rasse. Und natürlich werden dann die einen oder anderen Banditen der Vergangenheit zu leuchtenden Vorbildern für die Zukunft.

2. Die rechtsextremen Jugendkulturen
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Hooligans vieler Länder sind gerne und jederzeit bereit, ihre manchmal jahrzehntelange Erfahrung im Straßenkampf in die Dienste einer Sache zu stellen. Fußballfans sind mittlerweile feste Bestandteile von Protestbewegungen, ab dem Zeitpunkt ab dem Gewalt eine Rolle spielt: Ob in Ägypten 2011, in der Türkei 2013 oder der Ukraine 2014, oder auch schon beim Beginn der jugoslawische Bürgerkriege in den 1990er Jahren. Nicht immer stehen sie auf Seiten der Faschisten! In der Ukraine, wo die Fanszene aber schon länger stark rechtsorientiert ist (wie fast überall in Osteuropa), jedoch weitestgehend schon. National aufgeladene Popmusiken und Mode tragen ihres zur Ethnisierung bei (übrigens auch in Österreich gerade sehr schön zu beobachten).

3. Die „neutralen“ ExpertInnen und JournalistInnen
Wenn die EU, die NATO oder die Konrad-Adenauer-Stiftung (oder umgekehrt russische Institutionen) die Wissenschaft fördern, dann möchten sie auch umgekehrt von der Wissenschaft gefördert werden. Und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Geisteswelt, auch einige meiner KollegInnen RechtsextremismusexpertInnen, macht sich gern und jederzeit zur willfährigen Propagandaeinheit der ökonomischen und strategischen Interessen von diesem oder jenen Geldgeber. Ob aus Überzeugung, aus Loyalität oder gegen Cash spielt keine Rolle. Schwarz/Weiß-Denken ist Grundlage, aber die höchste Stufe des ExpertInnentums erreicht man erst durch eine „Verhitlerung“ des Gegners. Gleichzeitig sollen bedenkliche Elemente der eigenen Fraktion verniedlicht oder geleugnet werden. Faschisten sind immer die anderen. Oder die Faschisten „meiner“ Fraktion gibt’s ja nur wegen der Faschisten der anderen Fraktion („Das braune Huhn hat ein braunes Ei gelegt.“ „ Nein, aus dem braunen Ei ist ein braunes Huhn geschlüpft“).

4. Die bedrohten Brüder
Selbst Machthaber, denen man ansonsten wenig Sorge um das Wohlergehen „ihres“ Volkes nachsagen kann, werden zu echten Tigern, wenn dieses durch Dritte mutmaßlich drangsaliert wird, zumindest wenn es einem gerade in den strategischen Kram passt.

5. Die lokalen Machthaber
Ein Regimewechsel schafft viele Verlierer. Die alten Eliten der Regionen haben nun die Möglichkeit sich (mit Hilfe der in 1 – 4 beschriebenen) samt ihrer Region von den neuen, „illegitimen“ Machthabern abzuspalten. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, dass nach dem Ersten Weltkrieg vom amerikanischen Präsidenten Wilson popularisiert wurde, um die sozialen Kämpfe zu schwächen (und dem trotzdem auch manche Linke gern auf den Leim gehen), ist hier die Trumpfkarte. Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ dient in erster Linie dazu, andere Staaten zu destabilisieren, um den eigenen Herrschaftsbereich zu erweitern.

6. Die Verschwörungstheoretiker
Für sie ist alles von langer Hand geplant und inszeniert, meist natürlich vom Ursprung des Bösen, den USA oder der EU. Insbesondere letzterer könnte man aber höchstens vorwerfen, außenpolitisch überhaupt nichts zu planen, außer es gibt einen geheimen Plan, sich selbst möglichst viele Probleme zu schaffen. Die Verschwörungstheoretiker sind nützlich, um von den real existierenden Ungerechtigkeiten und Machtspielchen abzulenken.

Fazit
All diese Gestalten werken in und um die Ukraine. Ein – gemeinsames – Ziel haben sie schon erreicht: Linke spielen keine Rolle in diesem Konflikt. Die Enteignung aller Oligarchen, wie man Wirtschaftskriminelle in der Gegend nennt, wäre das am Naheliegendste; doch kein Hahn, ob pro-russisch oder pro-westlich kräht danach, und wenn doch wird ihm schnell der Hals umgedreht. Das Spiel mit den Nationalismen ist freilich ein Spiel mit dem Feuer. Dass muss aber nicht zwangsläufig zum Großbrand führen. Schließlich hätte ein längerer Krieg in der Ukraine verheerende Auswirkungen auf die EU und Russland. Gerne scheint man jedoch von beiden Seiten dieses Risiko in Kauf zu nehmen, so lange nur ja niemand ernsthaft die Eigentumsverhältnisse in Frage stellt.