Die Vergessenen von Wels-West

Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Problemviertels Noitzmühle sitzen in einem Boot – von der Politik weitgehend ignoriert müssen sie lernen gemeinsam zu rudern, wenn sie voran kommen wollen

„An einem an sich unscheinbaren Ort, im Volksmund `Noiz-Mühle` genannt, entsteht wieder ein neues Wels-Lichtenegg. Für gut 3000 Familien wird hier Platz geschaffen. Architekten und Bauleute schwärmen: Nach neuen Erkenntnissen der Gestaltung und Architektur, mit viel Kinder-Grün zwischen den Lang- und Hochbauten, mit Garagen `unten drunten`, mit Hobby-Räumen für die Freizeit, mit Platz für Kirche, Schule, Kindergarten, Einkaufszentrum.“

So schwärmte Sepp Käfer, Wels-Biograph in seinem 1975 als Buch erschienen „Porträt der Stadt“ über die im Entstehen begriffene Noitzmühle. Seine Erwartung „blühender Landschaften“ schien nicht gänzlich unberechtigt: Der neue Stadtteil, mit großen Wohnungen für Familien, lag verkehrsgünstig in der Nähe von Bundesstraße und der Autobahn, aber auch idyllisch an der Traun und ihrem Auwald. 2011 muß man über Käfers Hoffnungen schmunzeln – oder weinen. Schule und Kirche wurden nie gebaut; es stehen nur der Kindergarten und das Einkaufszentrum – letzteres allerdings nahezu leer. Einst gab es hier eine Bank, einen Friseur, eine Bäckerei, einen Blumenladen, ein Fotogeschäft, eine Trafik, ein Gasthaus, einen SPAR-Supermarkt und später auch ein türkisches Lebensmittelgeschäft. Einst. Jetzt gibt es davon lediglich die Trafik. Und ein oder zwei Wettbüros, jene untrüglichen Zeichen des Niedergangs. Vor dem Gasthaus, wo früher die Bürgermeister Ostereier oder Blumen zum Valentinstag verteilten, stehen heute Kerzen, als letzter Gruß für den Anfang Februar erstochenen Wirt. Das ist das Einkaufszentrum, von den Stadtplanern einfallsreich EKA-West getauft. Die Einheimischen haben gar keinen Namen dafür – man geht ja auch nicht mehr hin.

Anfang der 90er schrillten erstmals die Alarmglocken. In der Noitzmühle hatte sich eine Bande Neonazis gebildet, die mit Schlägereien und Einbrüchen von sich reden machte. Sozialarbeiter nahmen sich ihrer an; ein Jugendzentrum wurde eröffnet. Zumindest das Rechtsextremismus-Problem löste sich auch mit einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur:

Als Mitte der 70er-Jahre die ersten großen Wohnungen für die Baby-Boomer fertiggestellt wurden, hörten diese doch glatt schlagartig mit dem Kinder kriegen auf. Die Geburtenrate sank so wie die Scheidungsquote anstieg. Klein- und Kleinstfamilien hatten weder Bedarf noch Geld für große Wohnungen. Normale Familienstrukturen, oder was man dafür hielt, existierten überdurchschnittlich noch bei türkischen oder jugoslawischen MigrantInnen, die jetzt in die Noitzmühle kamen.

Mit ihrem Kommen begann die Welser Politik ihr Interesse am Stadtteil zu verlieren. Was soll man sich auch groß um Leute kümmern, die einem nicht mal wählen können, die keine Lobby oder Interessensvertretung haben? Die Stimmung wurde schlecht. Die andren LichteneggerInnen, zu einem großen Teil „volksdeutsche“ und ungarische Flüchtlinge und deren Nachkommen, haben ihre eigenen Migrationshintergründe vergessen und stehen den neuen Nachbarn ablehnend gegenüber. FPÖ und ÖVP beginnen eine regelrechte Hetze gegen die NoitzmühlerInnen, notorische Querulanten bombardieren die Servicestellen des Magistrates mit Beschwerden: Die Kinder sind zu laut, im Stiegenhaus stehen Dreiradler, der Müll wird nicht richtig getrennt…

Die ÖsterreichInnen, die hier bleiben, sind oft aus sozial schwächeren und bildungsfernen Milieus, sie werden regelrecht gegen die TürkInnen aufgehetzt, mit denen sie ja eigentlich im selben Boot sitzen. Die Politik setzte nicht auf Sozialarbeit oder Schaffung lebenswerter Strukturen, sondern auf Verbote. Ab Ende der 90er-Jahre wuchs ein wahrer Wald an Verbotsschildern: Ballspielen in den Grünanlagen, Alkohol trinken im Park, Grillen auf den Schotterbänken an der Traun – verboten. Selbst am Fußballplatz ist das Fußball spielen nicht erwünscht – deshalb hat der Magistrat die Tore entfernt.

Wer Fußball spielen will, soll zu einem Verein gehen, steht auf Schildern zu lesen. In der Noitzmühle gibt es aber keinen Verein, sowie im gesamten Stadtteil Lichtenegg. Vernünftige Initiativen, meist von der sozialdemokratischen Basis, wie etwa die Forderung eines Stadtteilzentrums im ehemaligen SPAR-Markt, verhallen ungehört. Strukturen verbessern? Gern, aber zuerst mal dort, wo die reichen Kinder wohnen. Planungsfehler gab es auch bei den Freizeiteinrichtungen: Der Schlittenberg, über einem Bunker aus dem Krieg aufgeschüttet, ist nach Süden ausgerichtet, der Schnee schmilzt schnell weg. Auch das Jugendzentrum wurde wieder geschlossen. Die Räumlichkeiten waren ungeeignet, Ersatz ist ebenso bitter nötig wie nicht geplant. In der ganzen Lichtenegg gibt es für die etwa 800 Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren kein Jugendzentrum mehr. Somit auch keinen Ort, wo die Jugendlichen mit Streetworkern in Kontakt treten könnten.

Öffentlichen Verkehr in die Innenstadt gibts weder in der Nacht noch an Sonn- und Feiertagen. Trotzdem Wels eine ausgesprochen niedrige Kriminalitätsrate hat, wurde eine „Ordnungswache“ installiert.

Die Noitzmühle ist heute eine vergessene Welt. Die Medien berichten von der westcoast, wie die Jugendlichen sagen, wenn dort wer stirbt. Die Schauplätze der letzten drei Tötungsdelikte in Wels liegen dort, im Umkreis von einigen Dutzend Metern.

Trotz alledem ist die Noitzmühle, vor allem ihre Bewohnerinnen und Bewohner, besser, lebenswerter als ihr Ruf. Die von der Sozialistischen Jugend und andren linken Gruppen organisierte Feier zum 1. Mai 2010 war ein großer Erfolg, an die 700 Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen haben sich daran beteiligt. Beim Aufstellen des Maibaums des „Aktiv-Teams“ engagierter BürgerInnen harmonierten Blasmusik und türkische Folkloretänze. Die Kinder und Jugendlichen begegnen einander oft vorurteilsfreier als ihre Eltern. An schönen Tagen spielen oft hundert oder mehr Menschen am torlosen Fußballplatz, und nicht selten besteht eins der zusammen gewürfelten Teams aus Angehörigen beider Geschlechter, dreier Generationen und vier oder mehr Nationalitäten. Und wenn einmal die Noitzmühlerinnen und Noitzmühler den Zusammenhalt und die Solidarität aus den Fußballmatches in die Realität übertragen können, werden sie auch ernst genommen werden. Zu hoffen bleibt dann auch, dass die WählerInnen erkennen, dass soziale Probleme mit Hetzparolen und Schikanen nicht gelöst, sondern vergrößert werden und sich jene, die nur Öl ins Feuer gießen wollen, dabei mal ordentlich die Finger verbrennen.

Fakten:

12 542 EinwohnerInnen zählt Wels-Lichtenegg, davon 2579 Nicht-österreichische StaatsbürgerInnen (Anteil etwa 30 % in der Noitzmühle, etwa 20 % in ganz Lichtenegg). 2009 waren mehr als 3000 LichteneggerInnen unter 18 Jahre alt, 767 im Alter von 15 – 18.

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wels 2009