Wenn die Oma plötzlich polnisch spricht. Migration und Seniorenbetreuung in Wels

Mit dem Fortschreiten ihrer Demenzerkrankung änderte sich so manches bei Frau Lehner[1]. Dass sie aber eines Tages statt breitem oberösterreichischen Dialekt nur mehr polnisch sprach kam dann schon überraschend. Die Recherchen der Enkel brachten die Lösung: Die Oma war zwar 1917 in Österreich-Ungarn geboren worden – aber als Angehörige der polnischsprachigen Minderheit in Galizien. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges heiratete sie einen Österreicher, dessen Land eben zu existieren aufgehört hatte, wurde somit Deutsche und schließlich war sie am Ende wieder Österreicherin, wie am Tag ihrer Geburt. Ein Menschenleben wie die Geschichte Mitteleuropas. Zum Vorschein kamen ihre Wurzeln allerdings erst durch ihre Alzheimer-Erkrankung. Diese hatte eine progrediente Verlaufsform, d. h. sie vergaß das später Erlernte zuerst und hatte das früh Erlernte länger im „Speicher“. So blieb polnisch über, als deutsch weg war.

Frau Lehner ist wie die überwiegende Mehrheit der BewohnerInnen der Häuser der Seniorenbetreuung nicht in Wels geboren. Sie kam der Liebe wegen in die Stadt, andere auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, nach Arbeit und Bildungschancen, viele auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung. Wir haben die Innviertler ArbeitsmigrantInnen der 1920er, die von den Nazis zwangsumgesiedelten Südtiroler „Optanten“ und Rumänien-Deutschen, die vertriebenen OsteuropäerInnen der Nachkriegswirren, die ungarischen Flüchtlinge von ´56, die „Boat People“ aus Kambodscha und Vietnam. Ein Meer an erlebter Geschichte und Geschichten, manchmal fast verschämt erzählt, als sei es etwas Unmoralisches, sein Leben verbessern oder schlicht retten zu wollen.

Die MigrantInnen aus Osteuropa, der Türkei und Jugoslawien, die ab den 1960ern als Arbeitskräfte angeworben wurden oder als Verfolgte aus ihren Heimatländern flohen, sind noch nicht in den Heimen angekommen. Zumindest nicht als BewohnerInnen – als Pflegepersonal sind sie unabkömmlich. In Wien haben bereits zwei Drittel des Pflegepersonals Migrationshintergrund, in Wels dürfte es etwa ein Drittel sein. Allein an der Stätte meines pflegerischen Wirkens – Vogelweide/Laahen – arbeite ich mit KollegInnen aus Kenia und Kirgisistan, aus der Türkei, Deutschland, der Ukraine, aus Ghana, Chile, China und allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens. Es ist also bereits ein gewaltiges Potential an Sprachkenntnissen und „interkultureller Kompetenz“ vorhanden. Und die werden wir in den nächsten Jahren wohl brauchen. Auch wenn viele Menschen ihren Lebensabend lieber in ihrer alten Heimat verbringen und wohl auch der familiäre Zusammenhalt im Schnitt höher ist als bei „Einheimischen“, wird der Anteil von Menschen insbesondere mit jugoslawischen oder türkischen Wurzeln in den Welser Heimen sicher ansteigen. Ein Grundwissen um z. B. orthodoxe und muslimische religiöse Traditionen und Riten wird daher bereits bei den meisten Berufsausbildungen im Pflegebereich vermittelt.

2015 wird einen neues Heim der Seniorenbetreuung in Lichtenegg-Noitzmühle eröffnet. An keinem anderen Ort in Wels und wahrscheinlich an wenig anderen Orten überhaupt in Österreich ließe sich die Migrationsgeschichte – und sogar ein gutes Stück Weltgeschichte! – besser veranschaulichen als hier. Im neuen Heim, das für viele die letzte Station auf ihrem Lebensweg sein wird, könnte Platz sein für ein kleines Museum der Flucht: Den Aufbruch, den Weg und die Ankunft. Ein Ort des Erinnerns für die Alten und des Lernens für die Jungen. Und wo die Oma wieder polnisch sprechen kann.

Thomas Rammerstorfer, aus Reizend Nr. 6


[1] Name geändert